Oszkar Maurer – Crazy Lud 2021
Der Wein mit dem Namen Crazy Lud fällt sofort auf, denn er hat nicht nur ein etwas gewöhnungsbedürftiges Etikett mit einer aufgescheuchten Gans, sondern erinnert in seinem äußeren erstmal an naturtrüben Apfelsaft. Die ultimative Erkenntnis erreichte mich aber durch unsere Kinder, die schon sehr früh gelernt haben, dass Wein etwas für Erwachsene ist und einen klassischen Sauvignon Blanc sehr wohl von einem Saft unterscheiden können. Beim Crazy Lud im Glas ging die Stimmung der Kleinen aber klar in Richtung “haben will”. “Tut mir leid, Naturwein ist zwar nur von der Schwerkraft filtriert und nicht geschwefelt, er ist aber trotzdem nichts für dich.” Der bernsteinfarbene Inhalt im Glas sorgt für erhöhten Speichelfluss. Dazu servieren wir leichte und gut gekühlte Naturweine gerne im Wasserglas. Ein Haufen Fallstricke für meine Kinder. Der am häufigsten gehörte Satz von Menschen, die Naturwein zum ersten Mal probieren lautet: “Das erinnert mich ein bisschen an Cidre.” Apfelcidre und Naturwein haben in der Tat geschmackliche Überschneidungen. Aber das haben Äpfel und Birnen auch und was man mit denen nicht machen sollte, wissen sogar unsere Kinder. Es könnte sich bei der Farbe Bernstein (mit dem Farbcode #ffbf00) auch um einen Hinweis auf Leonard Bernstein handeln. Jenen Komponisten, der sich für die moderne Variante von Romeo und Julia verantwortlich zeichnet: West Side Story. Die rivalisierenden Banden der Jets und der Sharks stehen beide für die Arbeiterklasse. Als Gruppe finden sie ihre Stärke, das individuelle Glück findet hier keinen Platz. Ähnlich wie die Winzer und Winzerinnen im ehemaligen Jugoslawien kaum individuelle Entfaltung erfahren durften, weil sie zu modernen und effektiven Produktionsmaschinen für Trauben degradiert wurden. Heute sieht die Sache jedoch ganz anders aus, der in den Großstädten des Westens heimische vulgäre Überfluss, bietet Nischen für Winzer wie Oszkar Maurer, die mit viel Liebe ihrer Leidenschaft nachgehen.
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Bevor ich zur Verkostung selbst komme, weise ich auf ein nicht unerhebliches Wortspiel hin, welches dem Wein seinen Namen gibt und das Etikett ziert: Lud heißt auf ungarisch “Gans” und auf serbisch “verrückt”. Wir sind also auf der Suche nach einer verrückten Gans oder – es ist sicher kein Zufall – nach verrückten Menschen, denn fügt man nur zwei besonders schmale Buchstaben hinzu – aus lud wird ljudi – dann haben wir es auf serbisch mit den verrückten “Leuten” zu tun! Wer aber heute als verrückt gilt, ist Morgen vielleicht ganz normal. Die Wahrheiten von heute, sind nicht immerwährend in Stein gemeißelt. Unser moralischer Kompass muss immer wieder adjustiert werden – wer heute vermeintlich “hysterisch schnattert” warnt uns vielleicht wie eine Gans vor drohendem Ungemach. Bevor jenes Ungemach selbst wieder zum Schnee von Gestern wird. Dass wir etwa in Europa Schnee bald nur noch aus Erzählungen und von alten Fotos kennen werden, klingt als Prognose genauso verrückt wie die Tatsache selbst. Nachgewiesen ist jedenfalls, dass Gänse als genügsame und überaus effektive Bewacher von Bauernhöfen gelten und nicht von ungefähr zur Sicherung von Militärbasen eingesetzt werden.
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Reise in die Vergangenheit
In der Nase führt uns der Crazy Lud in die Vergangenheit: etwas mostig, mit einer prägnanten Aromatik reifer Marillen und etwas Oregano. Marillen sind eine jener Früchte, die nicht nach dem Willen der Supermarkt-Einkäufer funktionieren. Das Steinobst aus Mitteleuropa erinnert mich an meine Kindheit wie keine andere Frucht. Meine Oma hatte einen alten Marillenbaum, der an der Hauswand wuchs und sie vollständig bedeckte. Marillen bevorzugen geschützte Stellen, sind Kälte gegenüber sehr empfindlich und mögen es gerne warm, aber eben auch nicht zu heiß. Das Geschmacksbild und die Konsistenz wechseln in der Zeit von unreife, reife und überreife sehr schnell. Eine perfekt reife Marille frisch vom Baum schmeckt nach der verbotenen Frucht aus Edens Garten, unwiderstehlich. Der Supermarkt hat die Marille bestialisch zerstört, sie allem entledigt, was sie ausmacht und am Schluss bleibt sie dann auch noch mit braunen Flecken im Regal übrig und trägt sich in der Statistik der weggeworfenen Lebensmittel ein – weltweit sind das laut Welternährungsorganisation übrigens 1,3 Mrd. Tonnen pro Jahr (dieser Link zu WWF soll helfen, diese Zahl ein bisschen begreifbarer zu machen). Früh geerntet und über weite Strecken verteilt schmeckt die Marille sauer und nach gar nichts. In dieser Hinsicht ist sie auch mit der industriellen Tomate befreundet. Wer nicht das Glück hat, bei sich zu Hause einen Marillenbaum zu haben, der weiß nichts vom Glück der Marille oder findet es nur noch in Form einer Marmelade (es gibt Ausnahmen, die wirklich toll sind) oder eines Obstbrandes! Es dürfte keine Zufall sein, dass uns dieser Wein daran erinnern möchte, dass die moderne Landwirtschaft natürlich ihre Errungenschaften hervorgebracht hat, dass man sich als Mensch aber auch an die Launen der Früchte anpassen kann und nicht nur die Früchte an die Launen der Menschen. Es scheint vor diesem Hintergrund ein besonders cleverer Kniff zu sein, diese Unterwerfung des Winzers unter die Trauben als Naturwein zu vermarkten. Anstatt die Macht der Traube zu akzeptieren, behaupten wir einfach, dass wir genau dieses Geschmacksbild schon immer trinken wollten! Auf unserer stetigen Frage nach dem, was uns wirklich wichtig ist im Leben, finden wir hier möglicherweise ein paar Antworten. Vielleicht steht die Gans auf dem Etikett aber auch einfach für eine Wildgans aus Nils Holgerssons Abenteuern in Schweden, die 1906 von Selma Lagerlöf als Auftragsbuch für den patriotischen Schulunterricht niedergeschrieben wurden. Eine Zeit vor der Zeit in der bereits vieles noch in Ordnung war (bei Oma unterm Marillenbaum) und daher vielleicht noch mehr in Ordnung war. Ob damals tatsächlich alles in Ordnung war, wagen wir (natürlich) zu bezweifeln, die Geschichten und Figuren bei Nils Holgersson sind zwar beeindruckend stoisch und zeigen kein Übermaß an Selbstmitleid, aber dem Leser bleibt ihr karges und schweres Leben nicht verborgen. Überhaupt ist der nostalgische Blick meist verklärt, weil er die Sorgen von heute vergessen macht und die Probleme von früher aufgrund des heutigen Wissensstandes gar nicht mehr sehen kann. Es asketisch protestantisches Weltbild liegt unserer Vorstellung von dem was wirklich wichtig ist jedenfalls nicht zugrunde.
Was den Crazy Lud aber wirklich besonders macht ist der erste Schluck (und die darauf folgenden): was für eine Saftigkeit im positivsten Sinn. Der Biss in eine reife bernsteinfarbene Aprikose. Mit 10,5% Alkohol kommt er einem sehr leichtflüssig über die Kehle. Kühl und süffig. Nichts hier ist anstrengend, karg oder protestantisch. Vielleicht war Nils Holgersson doch nur eine falsche Fährte. Stattdessen ist es der perfekte Wein während man Feuer macht um Kartoffeln, Zucchini und (Tofu-) Würstchen zu grillen. Der Mensch als archaisches Herdentier um das Feuer sitzend übt eine unglaubliche Faszination auf uns aus. Ein Bekannter hat mir seine Erfahrung mit Naturweinen kürzlich folgendermaßen beschrieben:
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–“Wein war für mich immer ein Genussmittel für einen besonderen Anlass, eine Einladung zum Abendessen, das bedeutete eine Flasche Wein. Ein Bier konnte ich aber immer trinken, darauf hab ich öfters richtig Lust. Das Gefühl habe ich bei Naturweinen jetzt auch. Es gibt nicht mehr den Anlass für Wein, sondern ich habe einfach zwischendurch Lust auf einen leckeren Naturwein.”
Ein Freund
Nach einer kurzen Reflexion muss ich sagen, dass ich mich mit dieser Aussage durchaus identifizieren kann, ganz sicher gilt die Aussage für einen Wein wie den Crazy Lud – zivilisiert archaisch eben, definitiv mit genug Widersprüchen in sich, um in die heutige Zeit zu passen. Andererseits sind für mich immer noch die besten Naturweine jene Weine, die man einfach trinkt, weil man sie gut findet und bei denen man gar nicht dazu sagen muss: “Achtung, das ist ein Naturwein, daran muss man sich erst gewöhnen.”
Für den Winzer Oszkar Maurer aus der Vielvölkerregion Vojvodina in Nordserbien ist die Leichtigkeit des Seins ebenso wenig ein Fremdwort wie die bereits gestellte Frage, was denn nun wirklich wichtig ist im Leben. Seine Weingärten stehen rund um sein Weingut und in der wichtigsten Weinregion in Nordserbien, der Fruška Gora (Frankenwald oder fruchtbare Hügel). Wer die Namen Bakator, Grünspitzler, Honigler, Welschriesling, Kövidinka und Slankamenka noch nie gehört hat, dem sei verziehen: es sind die Namen der Trauben, die für den Crazy Lud vergoren und dann cuveetiert wurden. Eines der gelüfteten Geheimnisse rund um das Weingut Maurer sind die vielen unterschiedlichen lokalen autochthonen, jedenfalls sehr authentischen Rebsorten, die hier angepflanzt werden. Meist wurden sie genau genommen als verwilderte Weinberge von Oszkar Maurer günstig eingekauft, um sie dann wieder professionell und aufwändig instand zu setzen. Wer sich mit der Vojvodina beschäftigt, kommt nicht darum herum die Analogie zu erkennen. Die Region Vojvodina umfasst etwa 2 Mio. Menschen und über 20 verschiedene anerkannte Volksgruppen. Neben den etwa 2/3 Serben sind dies insbesondere Ungarn, Slowaken, Kroaten, Roma und Rumänen. Es gibt 6 offiziell anerkannte Amtssprachen: Serbisch (kyrillisch), Ungarisch, Slowakisch, Kroatisch, Rumänisch und Russinisch (kyrillisch). Die Region ist wirtschaftlich im Vergleich zum Rest des Landes stark und schafft es daher immer wieder, die allzu nationalistischen Tendenzen in Schach zu halten und das friedliche Nebeneinander in den Vordergrund zu rücken. Deutsche Journalisten benutzen daher auch gerne den Begriff der Mini-EU für die Vojvodina. Es suggeriert, hier passiert etwas überraschend Positives, hier ist Multi-Kulti noch nicht gescheitert, hier zeigt sich, dass ein friedliches Nebeneinander von Sprachen, Kulturen und Religionen tatsächlich möglich ist. Wir schließen uns der Hoffnung dieser liberalen Journalisten und Journalistinnen an, eine Hoffnung die sich angesichts der anstehenden Umverteilungskämpfe (im Zuge des ungebremsten Bevölkerungswachstums und einer steigenden Zahl an unbewohnbaren Regionen durch die Erderwärmung) und dem freien Spiel der Kräfte jedoch nur auf einen schier aussichtslosen Einsatz für eine demokratischeres Miteinander stützt. Politik funktioniert immer dort, wo es etwas zu verteilen gibt. Die unglaubliche Diskrepanz und Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen weltweit, innerhalb eines Landes oder auch innerhalb einer Stadt wie Berlin, die nicht erst seit der Corona-Pandemie sichtbar wurde aber von ihr nochmals verstärkt wurde, hat bisher nicht zu radikalen systematischen Veränderungen geführt – eben weil der Kuchen bisher immer größer wurde und vermeintlich auch für die Ärmsten etwas übrig blieb. Wenn nicht in Relation zu den Anderen dann zumindest in absoluten Zahlen. Da durch ein immer näher heranrückendes Ende des ewigen wirtschaftlichen Wachstums jedoch eine Bereicherung nur noch ausschließlich auf Kosten von anderen möglich ist, wird das immer schon fragwürdige Narrativ von “geht es der Wirtschaft gut, geht es uns allen gut” endgültig neu erzählt werden müssen.
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Es ist jedenfalls kein Wunder, dass der serbische Winzer Oszkar Maurer aus der Vojvodina nicht nur Ungar ist (und in ungarischen Weinführern aufgelistet ist), sondern auch einen Großvater aus Salzburg hat (mit besten Grüßen von Maria-Theresia). Aus jenem Salzburg, bei dessen Festspielen jedes Jahr Hoffmannstal’s Jedermann aufgeführt wird. Dieser Jedermann aus Salzburg glaubt an das Recht des Stärkeren und lebt seine Gedanken frei aus, treibt sie an die Spitze. Er hat damit bisher gute Erfahrungen gemacht und glaubt, es würde ewig so weitergehen. Wer kann es ihm verübeln? Aus der Sicht der Gänse, macht das Verhalten von Jedermann vermutlich keinen Sinn. Es handelt sich um äußerst soziale Tiere, die sich auch umeinander kümmern, wenn ein Tier verletzt ist. Gänse etwa fliegen in einer V-Formation, bei der die vorderste Gans die anstrengendste Arbeit verrichten muss. Ihr Flügelschlag gibt den dahinter folgenden Gänsen starken Auftrieb. Forscher haben nachgewiesen, dass Gänse durch diese Technik 71 Prozent weiter fliegen können, als wenn sie diese alleine tun würden. Ist die Gans an vorderster Stelle erschöpft, schert sie aus, lässt einer anderen Gans den Vortritt und reiht sich hinten wieder in der Formation ein. Anders als bei der Tour de France können sie sich 100 Prozent darauf verlassen, dass die anderen Gänse ebenfalls Führungsarbeit verrichten werden. Was Jedermann und die Gänse aber vereint, dass sie sich in ihrer Umwelt einen Platz geschaffen haben und dass sie wohl nicht davon ausgehen, dass sich diese Umwelt in den nächsten Jahren gravierend verändern wird. Auch wir wissen nicht was die Zukunft bringt, aber die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Vorahnung zieht schnell herauf wie die Dämmerung in den unendlichen weiten der Vojvodina.
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10 Jahre begleiten wir ihn nun schon in seinem Tun als Winzer und Wegbereiter einer neuen Weinkultur in Serbien und Ungarn. Als wir mit Oszkar Maurer zum Beginn unserer Tätigkeit im Weinhandel zusammen gesessen sind, hatte er uns erzählt, dass er fast seine gesamte Produktion in Ungarn verkauft. In Belgrad hätte er es schon mehrfach versucht, aber er werde dort einfach nicht akzeptiert. Inzwischen hat sich einiges geändert. Die Weinszene wächst und verändert sich rasant. Oszkar Maurer ist sich mit seinen Vorstellungen von Naturwein immer mehr im Reinen, während er zu Beginn sehr viel probiert hat und immer wieder den Geschmack der lokalen Bevölkerung und der Budapester Restaurants berücksichtigte. Naturwein war damals ein chinesisches Fremdwort und ist es teilweise auch heute noch. Dennoch hat er seinen Weg gefunden. Obwohl er keineswegs geradlinig ist (kein Winzer dieser Welt wechselt Rebsortencuvees, Etiketten und Weinstilistik jedes Jahr so brutal wie Oszkar Maurer) identifiziert er sich heute 100 Prozent mit dem Konzept der Low-Intervention Weine, bei denen der Mensch möglichst wenig Einfluss auf die Weinherstellung nimmt und die Traube im Vordergrund steht. Schwefel wurde immer mehr weggelassen bis er wie beim Crazy Lud gar nicht mehr hinzugefügt wird. Dass er diese Weine auch heute noch kaum in der Region verkaufen kann, ist der große Wermutstropfen für Oszkar Maurer. Den Weg nach Belgrad hat er inzwischen gefunden, genauso wie nach Berlin, Kopenhagen, Amsterdam, London, Paris, New York und Tokio. Sich selbst bezeichnet Oszkar Maurer als Punk, das freie Ausleben seiner Gedanken spielt dabei eine zentrale Rolle in seinem Leben. Mit 20 Hektar eigenen Weinbergen und 15 MitarbeiterInnen gehört er gleichzeitig zu den verantwortungsvollen ArbeitgeberInnen der Region. Ziemlich “verrückt” für einen serbisch-ungarischen Winzer aus der Vojvodinischen Pampa, der 1993 noch im Jugoslawien-Krieg gekämpft hat. Vielleicht handelt es sich beim Crazy Lud also einfach um ein Stück Selbsterkenntnis, die er in abgefüllten Flaschen in die ganze Welt verkauft. Živeli (zum Wohl)!
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